Von Aktivismus und Wissen(schaft). Wissensgeschichten der neuen sozialen Bewegungen

Von Aktivismus und Wissen(schaft). Wissensgeschichten der neuen sozialen Bewegungen

Organisatoren
Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
25.01.2024 - 26.01.2024
Von
Pascal Eitler, Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

Die neuen sozialen Bewegungen (NSB) um und nach 1968 haben in den vergangenen zwanzig Jahren viel Aufmerksamkeit erfahren – gerade auch innerhalb der Zeitgeschichtsschreibung. In ausdrücklich wissenshistorischer Perspektive sind sie bislang jedoch eher selten in den Blick geraten. Die an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg von ANNA HORSTMANN (Hamburg) und RUTH POPE (Hamburg) organisierte Tagung rückte in dieser Hinsicht nicht so sehr einzelne Ideen oder intellektuelle Wortführer:innen, sondern die Dynamik und die Mechanismen, die mobilisierende Kraft und die unterschiedlichen Quellen miteinander verschränkter Deutungsmuster und Argumentationsfiguren in den Fokus. In diesem Sinne ging es um das sich wandelnde „alternative“ Bewegungswissen der NSB – ihr sogenanntes „Gegenwissen“. Im Zentrum standen dabei die 1970er- und 1980er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und den USA.

Eingeleitet wurde die Tagung von einem sehr facettenreichen, konzeptionell ausgerichteten Beitrag von SVEN REICHARDT (Konstanz), der die wichtigsten Ebenen einer Wissensgeschichte der NSB herausarbeitete. Er unterschied dabei vor allem zwischen vier Ebenen: erstens der Frage nach den beobachtbaren Wissenspraktiken, nach dem konkreten Gebrauch und dem situativen Umgang mit einem je spezifischen Wissen; zweitens die Untersuchung der ganz unterschiedlichen Wissensformen, der narrativen Strategien und der verschiedenartigen Produktion und Zirkulation von Wissen, wobei er vor allem und zurecht die Bedeutung eines impliziten, intuitiven, scheinbar individuellen Wissens hervorhob; drittens unmittelbar im Anschluss daran die Frage nach der darauf aufbauenden Selbstermächtigung der NSB innerhalb des politischen Feldes, nach Politisierungsprozessen und den je spezifischen Möglichkeiten der Partizipation und – hier dann auch – nach der Bedeutung von intellektuellen Wortführer:innen; viertens last not least die gesellschaftlichen Bedingungen und die gesellschaftlichen Folgen des „alternativen“ Bewegungswissens. Im Anschluss an diesen sehr konzentrierten Einstieg gliederte sich die Tagung in fünf Panels mit insgesamt 14 Vorträgen, die ein überaus breites Angebot an vielversprechenden Themen entfalteten.

Das erste Panel widmete sich den transnationalen Verflechtungen innerhalb der NSB und rekonstruierte am Beispiel von Anti-Pestizid-Initiativen (SARAH EHLERS (München)), Fair-Trade-Projekten (BENAJMIN MÖCKEL (Aachen)) und Guatemala-Solidarität-Netzwerken (FABIAN BENNEWITZ (Köln)) vor allem die in den 1970er- und 1980er-Jahren stark wachsende Bedeutung des globalen Südens für die NSB in der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und den USA. Dabei arbeiteten alle drei Beiträge heraus, wie wichtig es für die NSB war, „alternatives“ Bewegungswissen zu produzieren und sodann auch erfolgreich zu zirkulieren, ein „Gegenwissen“ zu den gesamtgesellschaftlich vorherrschenden Vorstellungen über Pflanzenschutz, den Welthandel oder Mittelamerika – so etwa durch entsprechende Reiseberichte und eigene Fotoreportagen, durch vielfältige Briefkontakte und eigene Newsletter.

Das zweite Panel beschäftigte sich vor diesem Hintergrund mit der Bedeutung „alternativer“ Formen der Geschichtsforschung und Geschichtsvermittlung in der Bundesrepublik Deutschland der 1970er- und 1980er-Jahre. BENET LEHMANN (Gießen) zeichnete in diesem Rahmen die Entwicklung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BDA) nach, während sich JANIK HOLLNAGEL (Berlin) mit der Fachschaftsarbeit am Historischen Institut der Freien Universität und LENA LANGENSIEPEN (Hamburg) mit dem Entstehen und den Vorhaben der Hamburger Geschichtswerkstätten auseinandersetzten. In allen drei Vorträgen traten dabei vor allem unterschiedliche Politisierungsprozesse innerhalb und am Rande der Geschichtswissenschaft in den Blick, die nicht nur der zunehmend zu beobachtenden Selbstermächtigung von Laienhistoriker:innen, sondern auch der wachsenden Bedeutung des sogenannten „Zeitzeugen“ für die Geschichtswissenschaft im späten 20. Jahrhundert zugrunde lagen.

Das dritte und vierte Panel rückten die zentrale Rolle des Körpers für die NSB in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, den Körper als Thema wie auch den Körper zahlreicher Akteur:innen und deren „alternative“ Körperpolitik. Nachdem JOHANNES BOSCH (Heidelberg / Paris) einen Rückblick auf entsprechende Entwicklungen in den westeuropäischen Lebensreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts geworfen hatte, widmeten sich KASSANDRA HAMMEL (Tübingen) dem sich wandelnden Körperbild und vielfältigen Sexualitätsdebatten innerhalb der Neuen Frauenbewegung und HAUKE BRANDING (Lüneburg) der neuartigen Gesundheitsfürsorge und unterschiedlichen Subjektivierungsstrategien innerhalb der sich in den 1970er- und 1980er-Jahren konstituierenden Schwulenbewegung. Im Hinblick auf die zentrale Rolle des Körpers und die „alternative“ Körperpolitik der NSB stellten beide Vorträge unter anderem den vielfältigen Einsatz von Bildern heraus, die Visualisierung des „Gegenwissens“ in Form von Fotos und Filmen oder auch Comics. Sie ließen darüber hinaus aber auch erkennen, wie unterschiedliche Akteur:innen ihren Körper teilweise neuartig gebrauchten und dadurch nicht nur anders erfuhren, sondern auch veränderten. Zwei weitere Beiträge beschäftigten sich mit der Rassismus-Reflexion und Anti-Rassismus-Initiativen unter westdeutschen Migrant:innen (DAVID BECK (Hamburg)) und der westdeutschen Gehörlosenbewegung und deren Bemühungen um die Anerkennung der eigenen Sprachfähigkeit durch eine eigene Gebärdensprache (ANJA SATTELMACHER (Berlin)). Beide Beiträge zeigten auf, wie sich die NSB in den 1970er- und 1980er-Jahren – thematisch und personell – beeindruckend ausweiteten. Darüber hinaus verdeutlichten sie aber auch, dass sich bestimmte Akteur:innen dabei gerade nicht auf ihren Körper beschränken lassen wollten.

Das fünfte und letzte Panel rekurrierte auf das ursprünglich sehr enge Verhältnis zwischen Wissensgeschichte und Wissenschaftsgeschichte und widmete sich diesbezüglich der Auseinandersetzung der NSB mit den Naturwissenschaften, so vor allem im Rahmen der Technologiefolgenabschätzung. Nachdem SIMON MAIER (Konstanz) einen Überblick zur Technikkritik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Ende der 1960er- und Ende der 1980er-Jahre zur Diskussion gestellt hatte, innerhalb wie außerhalb der NSB, nahm CHRISTOFFER LEBER (München) Politisierungsprozesse in den 1970er-Jahren unter Biolog:innen und Chemiker:innen in den Vereinigten Staaten und deren vielfältigen Protest gegen eine zunehmende Biologisierung sozialer Ungleichheiten in den Fokus. ALEXANDER VON SCHWERIN (Braunschweig) lenkte abschließend den Blick auf die „Gegenforschung“ der NSB in der Bundesrepublik Deutschland und deren – finanziell wie personell – häufig stark eingeschränkte Ressourcen, so etwa bei der Anfertigung von Fachgutachten zur Technologiefolgenabschätzung. Stärker als die meisten anderen Beiträge rückte er damit das vermeintliche „Gegenüber“ der NSB in den Blick, in seinem Fall etablierte Forschungsinstitute im Auftrag großer Industrieunternehmen.

In diesem Sinne konzentrierte sich die Mehrzahl der Beiträge auf die Produktion und Zirkulation des „alternativen“ Bewegungswissens und die Selbstermächtigungen der NSB innerhalb des politischen Feldes. Sehr viel genauer als üblich nahm die Tagung dabei vor allem die konkreten Wissenspraktiken und die zentrale Rolle eines impliziten, intuitiven, scheinbar individuellen Wissens in den Fokus, überaus vielfältig und oft ausführlich bebildert. Die wissenshistorische Perspektive der Tagung hat sich in dieser Hinsicht nicht nur als sehr interessant, sondern streckenweise auch als wirklich innovativ erwiesen. Was insgesamt ein wenig zu kurz kam, waren hingegen die gesellschaftlichen Bedingungen und gesellschaftlichen Folgen der NSB, Einflüsse und Wechselwirkungen auch außerhalb des politischen Feldes, so etwa im Fall des religiösen Feldes oder des ästhetischen Feldes. Die mobilisierende Kraft des „alternativen“ Bewegungswissens in den 70er und 80er Jahren erklärt sich eben auch daraus, dass es mitunter gar nicht so „alternativ“ war, sondern in vielerlei Hinsicht zahlreiche Anschlussmöglichkeiten besaß – auch außerhalb der NSB. Kontrovers diskutiert wurde vor diesem Hintergrund vor allem der Begriff des „Gegenwissens“, denn in wissenshistorischer Perspektive bleibt dieses stets mit seinem – angeblich ganz anders gearteten – „Gegenüber“ verknüpft. Die Wissensgeschichte der NSB ermöglicht es in dieser Hinsicht auch, gesamtgesellschaftlich beobachtbare Entwicklungen umfassender befragen und angemessener begreifen zu können.

Konferenzübersicht:

Anna Horstmann (Hamburg) / Ruth Pope (Hamburg): Begrüßung

Sven Reichardt (Konstanz): Keynote, Zur Konzeptionalisierung des Bewegungswissens

Panel 1 – Wissen transnational

Sarah Ehlers (München): Zwischen wissenschaftlicher Evidenz und Aktivismus: Kritik am Pestizid-Export in Entwicklungsländer in den 1970er und 1980er Jahren

Benjamin Möckel (Achen): Produktinformationen. Wissen, Handel und „Bewusstseinsbildung“ im Fairen Handel der 1970er bis 1990er Jahre

Fabian Bennewitz (Köln): Gegenöffentlichkeit und transnationale Wissensproduktion: Die „demokratische Öffnung“ Guatemalas und die bundesdeutsche „Guatemala-Solidarität“ (1984–1991)

Panel 2 – Geschichte als Wissenspraxis

Benet Lehmann (Gießen): „Aus der Geschichte lernen!” Historiker∗innen als geschichtspolitische Aktivist∗innen in der VVN-BDA

Janik Hollnagel (Berlin): Kritik der Wissenschaftspraxis vor Ort. Die Fachschaftsinitiative (FSI) Geschichte an der FU Berlin in den 1980er Jahren

Lena Langensiepen (Hamburg), Hamburger Geschichtswerkstätten und Stadtteilarchive als Chronisten der Stadt im Wandel

Panel 3 – Wissen um Körper, Geschlecht und Sexualität

Johannes Bosch (Heidelberg/Paris), Der „natürliche Körper“ der Lebensreform. Zum politischen Gehalt von alternativem Wissen

Kassandra Hammel (Tübingen): „Die Scham ist (nicht) vorbei“. Oder: Wie britische und westdeutsche Frauenbewegungen weibliche Sexualität und das Wissen darüber neu definierten

Panel 4 – Wissen und Selbstermächtigung

David Beck (Hamburg): Antirassistisches (Gegen-)Wissen. Eine migrantische Bewegungsgeschichte der Transformationszeit

Hauke Branding (Lüneburg): “Daß wir Partei ergreifen und tendenziös schreiben, versteht sich von selbst“ – Wissen, Selbsthilfe und Aufklärung in der westdeutschen Schwulenbewegung am Beginn ihrer ‚Institutionalisierung‘

Anja Sattelmacher (Berlin): „Unser Recht auf DGS!“ – Eine Wissensgeschichte der Gehörlosenbewegung

Panel 5 – Medizin, Umwelt, Technik

Simon Maier (Gießen): Zur Hypostase von Gesellschaftskritik (mit Hilfe der Technik) – Werkstattberichte aus dem Protestmilieu, ca. 1967-1987

Christoffer Leber (München): Vom lokalen zum nationalen Aktivismus? Radical Science, Gegenwissen und die Debatte um biologischen Determinismus in der Boston Area (1970-1980)

Alexander von Schwerin (Braunschweig): Der legitime Ort der Kritik. Konfigurationen des Gegenwissens in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren